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Hartz 4 und trotzdem Gymnasium und Uni?

GrafikHeute Morgen fand ich über zig Umwege den obenstehenden Tweet von @Faserpiratin und konnte nicht anders als draufzuklicken. Denn mein erster Gedanke war: Ja, warum denn auch nicht?

Samstag, 02. Februar 2013

Nachdem ich das Posting Wenn du dann studieren gehst ... gelesen hatte, war mir klar, dass ich in meiner Schulzeit entweder auf einer Insel der Glückseligen gelebt habe, oder dass sich heute alles zum Schlechten verändert hat (was mir meine Kinder nur zum Teil bestätigten, aber dazu später mehr).

Kindheit in den 60er und 70er Jahren

Ich war ein halbes Jahr alt, als meine Eltern mit mir in eine Sozialbausiedlung zogen, wie sie in den 60er Jahren überall in den Berliner Außenbezirken entstanden. Es war eine Siedlung in Zeilenbauweise. In unserem Karrée gab es drei- bis sechsgeschossige Häuser, dazwischen viel frisch angelegter Rasen und Spielplätze. Ein Stück weiter in Richtung Grundschule lag eine Straße mit Einfamilienhäusern. Keine Villen, sondern einfache Häuschen.

1970 bin ich eingeschult worden. In meinem Karrée - und somit in meiner Grundschulklasse (wir waren 41 Kinder!) - gab es mehrere Schüler aus Familien, deren Eltern sich Klassenfahrten u.ä. nicht leisten konnten. Zum Teil wegen Arbeitslosigkeit oder weil sie einfach mal 7 Kinder hatten. Ob diese Familien dann auch "vom Amt" überprüft wurden, wie es bei der Faserpiratin der Fall war, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.

Akademikereltern gab es in meinre Klasse wenige. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass die Berufe der Eltern je Thema waren, außer bei einem Mitschüler, dessen Eltern ebenfalls Lehrer waren und sich auf Elternabenden wohl immer sehr aufplusterten, sonst hätte ich das nicht erfahren. Auch meine Eltern hatten "nur" mittlere Reife, und mein Vater war zwischendrin auch mal arbeitslos, weil die Firma, in der er angestellt war, pleite ging. Aber wie gesagt, das war nie Thema in der Schule und meine Mutter arbeitete ja auch, sodass zumindest ich keine finanziellen Einbußen bemerkte.

Unterstützung von Mitschülern und Lehrern

In der Klasse haben wir immer für die Mitschüler gesammelt, damit sie bei Klassenfahrten und Ausflügen mitfahren konnten (gibt es eigentlich heute noch die Spendensammlung für Schullandheime? Aus diesem "Topf" kam nämlich auch immer noch Geld) und glücklicherweise gab es noch Lehrmittelfreiheit, sodass nicht auch noch die Kosten für Bücher anfielen.

Außerdem haben wir von unseren Lehrern viel über Toleranz und angemessenes Sozialverhalten gelernt. Dann kam ich aufs Gymnasium. Das war nie eine Frage, weder für mich noch für meine Eltern, die zur Not ihr letztes Hemd dafür gegeben hätten, mir die Bildung zu ermöglichen, die ich mir mit meinen durchweg guten Schulnoten quasi verdient hatte. Und auch auf dem Gymnasium ging es ähnlich zu, wie auf der Grundschule. Dort gab es eine natürliche Durchmischung verschiedener sozialer Schichten. Keine Superreichen, keinen Markenwahn und ich kann mich an keine Ausgrenzung aus finanziellen Gründen erinnern. Dafür aber an etwas anderes:

"Arztpapis und Rechtsanwaltmamis"

In Berlin geht die Grundschule ja bis einschließlich 6. Schuljahr. Damals gab es auch noch keine Ausnahmen, allerdings war angedacht unsere Schule zum allerersten sog. "grundständigen Gymnasium" zu machen, d.h. zwei Klassenzüge sollten bereits ab der 5. und nicht erst ab der 7. Klasse beginnen. Für diese Schüler sollte dann auch Latein als Leistungskurs Pflicht sein.

Da war der Aufschrei unter uns Schülern groß. Die Befürchtung, nun würden "lauter Arztpapis und Rechtsanwaltsmamis ihre Kinder an unsere Schule schicken" wurde häufig laut geäußert. Wir wollten nicht, dass Bildung plötzlich ein Privileg der Besserverdienenden würde. Denn dass es diese Berufsgruppen wären, die darauf aus sind, ihre Kinder möglichst früh aufs Gymnasium zu bringen, das war uns rasch klar. Und die Reaktion lässt auch darauf schließen, dass Ärzte, Anwälte, etc. bei uns bislang nicht in Erscheinung getreten waren. Oder dass einfach niemand darüber geredet hat. Denn, wie gesagt, auch dort war Markenwahn bis dato unbekannt. Klar, manche trugen "Roots" (ich war von der Alternativen Fraktion), aber wer sich die nicht leisten konnte, wurde auch in seinen Turnschuhen nicht schief angesehen. Gedisst und gemobbt wurde natürlich trotzdem hier und da, auch wenn es längst noch nicht so hieß und auch nicht mit der Vehemenz ausgeübt wurde, wie sie heute offenbar üblich zu sein scheint. Aber nicht wegen Geldmangel. Wenn jemand keines hatte, dann konnte er nicht dafür, wieso ihn also damit ärgern? Offenbar gab es bei uns noch eine Hemmschwelle bei manchen Dingen. Wir haben aber auch nicht nachgetreten, wenn jemand schon am Boden lag, weder sinnbildlich noch buchstäblich. Etwas, das heute teilweise außer Kraft gesetzt scheint.

Kein Auto, kein Telefon, kein Urlaub? Nichts Besonderes bei uns

In meiner Clique war beispielsweise ein Mädchen, deren Eltern keinen Telefonanschluss hatten. Wir fanden das zwar seltsam (ihr Vater war angeblich einfach gegen diesen "neumodischen Schnickschnack" - Ende der 70er / Anfang der 80er *g*), aber es war halt so. Und Handys waren noch nicht erfunden. Wir haben sie deshalb aber weder gemobbt noch außen vor gelassen. Stattdessen haben wir uns entweder direkt in der Schule verabredet, oder eine von uns ist bei ihr vorbeigeradelt und hat sie informiert. Stundenlanges SMSen oder zig Messages via Facebook, bis man sich endlich auf einen Treffpunkt einigt und was man eigentlich machen will, nur um in letzter Minute alles wieder umzuschmeißen - das kenne ich nur von unseren Kindern. Gab es bei uns einfach nicht und war völlig ok so. Eltern ohne Auto waren auch nichts Besonderes.

Zeitgeist?

Ich habe mich natürlich gefragt, ob dieses relativ friedliche Zusammenleben daran lag, dass wir "alle sowieso nix hatten" (jedenfalls nichts, was andere hätte neidisch machen können). Oder ob uns unsere Mitschüler gleichgültig gewesen waren. Und ob das heute überall so ist, wie die Faserpiratin es erlebt hat.

Zum einen hatten wir tatsächlich offenbar alle etwas Besseres zu tun, als uns den Kopf darüber zu zerbrechen, welche Eltern Geld hatten und welche nicht. Wenn jemand einen gewissen Luxus besaß, wie etwa ein Ferienhäuschen im Ausland, dann deshalb, weil die Eltern in ihren "einfachen" Berufen hart dafür gearbeitet und ewig gespart hatten. Dafür gab es dann zu Hause eben öfter mal Bratkartoffeln.

Und wie ist es heute? Mein Liebster und ich (beide Akademiker mit Nichtakademiker-Eltern), wir sind weiter an den Stadtrand gezogen, in ein halbes Siedlungshaus, wo sich nun zwei Erwachsene und vier Kinder drängeln. Wir können uns einiges leisten, wissen aber auch, wie es war, als wir als Studenten mit 6 Mark am Tag zu zweit irgendwas Essbares auf den Tisch bringen mussten. Wir konnten nicht zu unseren Eltern gehen und sagen "Jetzt ist Wochenende, ich brauch ein bisschen Kohle zum Feiern". Die hätten uns nämlich was gehustet. Für unser erstes gemeinsames Möbelstück (ein Hochbett, um in unserer Ein-Zimmer-Wohnung ein bisschen mehr Platz zu schaffen), sind wir nachts um drei aufgestanden und putzen gegangen. Unsere Kinder haben da schon deutlich mehr Luxus. Aber als ich sie gefragt habe, wie es denn bei ihnen in der Klasse ist, ob da Kinder sind, die aus finanziellen Gründen nicht mit zu den Klassenfahrten könnten, und wie sie denn damit umgingen, war ich über die Antworten erstaunt und erfreut.

Bildung nur für Reiche?

Es gibt nämlich auch heute an den Gymnasien Kinder, deren Eltern kein überflüssiges Geld haben. Als ein Mitschüler kein Geld für die Klassenfahrt hatte, hat man eben eine Lösung gefunden das Geld aufzutreiben. Keiner kommt auf die Idee, ihn deshalb schief anzusehen. Liegt es an der Klassengemeinschaft? Natürlich gab und gibt es dort Nervensägen, die es aufgrund ihrer Art anfangs etwas schwerer hatten sich zu integrieren. Aber auch diese sind mttlerweile selbstverständlicher Teil der Klassengemeinschaft; die Schüler setzen sich für sie ein und mögen sie. Und wenn sie dazu noch arm wären wie die Kirchenmäuse, würden die Mitschüler sich etwas einfallen lassen, wenn es um finanzielle Dinge ginge. Wer kein Geld für ein Geburtstagsgeschenk hat wird trotzdem eingeladen und muss nichts mitbringen. Ich finde es wirklich tröstlich, dass es offenbar noch Schüler gibt, die von ihrern Eltern so etwas wie Werte mitbekommen haben, auch wenn sie selbst eher privilegiert sind.

Ich habe aber auch schon von Grundschulmüttern gehört, die lieber keinen Antrag auf finanzielle Unterstützung bei Schulbüchern stellen, weil es vorkommt, dass Lehrer das vor der gesamten Klasse diskutieren und dann schon mal dumme Sprüche von den Mitschülen kommen. Dann wird das Geld für das nächste Schulbuchjahr eben centweise woanders gespart um dem Kind die erneute Schmach zu ersparen.

Vor diesem Hintergrund nimmt sich das, was die Faserpiratin bei ihrer Abiturfeier erlebt hat, besonders perfide aus:

Bei der Zeugnisvergabe bekamen dann unsere beiden Besten von der Schule eine nicht unerhebliche Summe Geld geschenkt. Eine Freundin aus ähnlichen finanziellen Verhältnissen und ich bekamen kaum den Mund zu. Wir beide hatten richtig gekämpft für unseren Abschluss und beide sehr gut abgeschnitten. Wir sind sehr früh selbst arbeiten gegangen - ich habe in den feinsten Häusern Nachhilfe gegeben. Wir hatten beide einen Studienplatz in Aussicht und wussten nicht, wovon wir da leben würden. Die beiden, die von unserer Schule mit Geld belohnt wurden, bekamen beide von ihren Eltern einen Laptop zum Abi.

Toleranz vs. Dummheit?

Fazit ist, ich habe nicht herausfinden können, welche Parameter gegeben sein müssen, damit sich "reiche" Kinder über Hartz 4- Kinder lustig machen. Vielleicht haben wir hier alle noch nicht genügend Kohle um die Arroganz gleich mitgepachtet zu haben. Möglicherweise muss man schon reich geboren sein (geerbt haben, wasweißich) und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben um sich gegenüber denen aufzuspielen, die nichts dafür können, dass sie kein Geld haben.

Deshalb wüsste ich gerne von euch, ob ihr Ähnliches erlebt habt, wie das, was die Faserpiratin in ihrem wirklich lesenswerten Posting schreibt, sei es auf der Seite derer, die nichts haben oder als "neutraler Beobachter". Denn dass die, die auf Hartz4-Familien herabsehen, sich hier melden, halte ich für eher unwahrscheinlich ;-)

Ich danke euch dafür, dass ihr bis hierher durchgehalten habt.

Tolerante Zeiten wünscht euch

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25 Jahre writingwoman | Autorin Petra A. Bauer

 
20 Jahre writingwomans Autorenblog. Seit 2.9.2002.
 
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